Der Riss ist geblieben Fünf Jahre nach der blutigen Maidan-Revolution herrschen in Odessa am Schwarzen Meer noch immer politische Zerrissenheit, Korruption und Kriminalität.

Erschienen am 22.02.2019

Odessa.

Das Holz fühlt sich fest und glatt an, obwohl es keine Akazie ist wie in Berlin, sondern Kiefer. "Kiefer ist billiger", sagt Jeremiza. "Und wir schweißen keine sechs, sondern acht Millimeter dicke Eisenbeschläge. Weil ein Spielplatz in Odessa mehr Rabauken aushalten muss als in Deutschland." Jeremiza schwärmt von Berlin, wo seine Kinder zweieinhalb Jahre zur Schule gingen, in Wilmersdorf. "Da hab ich die ersten hölzernen Kinderspielplätze gesehen", er plaudert mit Hochgeschwindigkeit, die Kommas setzt er mit einem Lächeln. Der Mann ist offenbar eine Frohnatur, wie viele Odessiten. Obwohl ihre Stadt in den vergangenen fünf Jahren wenig Grund zur Freude hatte.

Am 2. Mai 2014 kam es in Odessa zu gewalttätigen Straßenkämpfen prorussischer Demonstranten. Bei einem Brand des Gewerkschaftshauses, in dem sich Anhänger Russlands verschanzt hatten, starben 48 Menschen.
Foto: Alexey Furman/dpa/Archiv

Vor fünf Jahren war Alexei Jeremiza, 39, noch Vizegouverneur der ukrainischen Schwarzmeerregion Odessa, zuständig für Bauwesen. Aber die Maidan-Revolte brodelte schon, am 22. Februar 2014 stürzten prowestliche Aufständische in der Hauptstadt Kiew den Präsidenten Viktor Janukowitsch und sein Regime, auch der Vizegouverneur von Odessa wurde abgesetzt.

Jeremiza, damals Mitglied von Janukowitschs prorussischer "Partei der Regionen", sitzt jetzt als Abgeordneter für deren Nachfolgepartei "Oppositionsblock" im Stadtrat von Odessa. Er sagt, er habe damals angesichts Janukowitschs kriminell-korrupten Regimes im Stillen mit dem Maidan sympathisiert. "Aber das Ergebnis, der Assoziierungsvertrag mit der EU, hat unsere Industrie ruiniert. Und die Korruption ist nicht verschwunden."

Moskau antwortete auf den prowestlichen Maidan mit der Annexion der Krim, zettelte in der Ostukraine Aufstände an. Auch in Odessa brachen am 2. Mai 2014 Straßenkämpfe aus. Das Gewerkschaftshaus, in dem sich Anhänger Russlands verschanzt hatten, geriet in Brand, mindestens 48 Menschen kamen um. "Die Staatsmacht brauchte diese Opfer", meint Jeremiza, "um dem Antimaidan ein Ende zu machen." Der blutige Trennstrich von damals hängt noch immer über der Millionenstadt. Dabei haben es Anhänger wie Gegner des Maidans mit altbekannten Widersachern zu tun: Korruption und Kriminalität.

Odessa ist sehr alt und sehr jung. Ein Großteil der Architektur stammt aus dem 19. Jahrhundert, die Jugendstilfassaden der Obergeschosse bröckeln, unten aber drängen sich Coffeeshops und Frühstückscafés, deren W-Lan-Parole "I need new shoes" lautet. Donbasskämpfer und Politologen verabreden sich zum Interview in Kneipen mit 17 verschiedenen Sorten Craft-Bier. Odessa gilt als lebenslustig, besitzt nach der Annexion der Krim nicht nur den letzten großen Schwarzmeerhafen der Ukraine, sondern auch ihren längsten Urlaubsstrand. In der Fußgängerzone auf der Deribasiwska flanieren türkische Männerrudel, der Sextourismus hat rund ums Jahr Saison.

Aber das Gerichtsverfahren, das das Blutbad vom 2. Mai 2014 aufklären soll, kommt nicht voran. Vor dem Gewerkschaftshaus versammeln sich jeden Sonntag etwa 40 Leute, um Vergeltung zu fordern. Die meisten haben graue Haare und tragen ärmliche Kleider. Pensionären geht es schlecht unter dem Präsidenten Poroschenko. Jeremizas Eltern, ein früherer Trolleybusfahrer und eine Straßenarbeiterin, bekommen zusammen umgerechnet 104 Euro Rente im Monat. Aber allein Gas, Strom und Wasser kosten sie über 110 Euro.

Poroschenko und sein Westkurs sind in der Region nicht mehrheitsfähig. Nach Umfragen aus dem vergangenen Jahr sind nur 15 Prozent ihrer Bewohner für einen Beitritt zur Nato, dreimal weniger als in der übrigen Ukraine. Und als auf dem Bahnhof, im Nachtzug nach Kiew, jemand englisch spricht, murrt ein beleibter Herr in Lederjacke mit Pelzkragen laut: "Was, haben wir einen Ami-Scheißer im Abteil?"

Der Politologe Witali Ustimenko, ein 25-jähriger Schlaks mit dunklem Haar, aber setzt auf den Westen, wie viele junge Leute hier. "Das wichtigste Ergebnis des Maidans ist die ukrainische Zivilgesellschaft, die es nie zulassen wird, dass unser europäischer Sektor wieder russisch oder sowjetisch wird."

Ustimenko und Jeremiza kennen sich, entsetzen sich gegenseitig über ihre politischen Ansichten. "Die Ukraine kann nur als Korridor, als Brücke zwischen Europa und Russland überleben", verkündet Jeremiza. "Sie muss in beide Richtungen schauen."

Ustimenko aber gehört zu den Gründern der "Selbstverteidigung", gut 200 Odessiten, die sich im Frühjahr 2014 mit Helmen und Schlagstöcken bewaffneten, um ihre prowestlichen Kundgebungen zu verteidigen. Die kriegerische Romantik von damals ist vorbei, geschäftstüchtige Exkameraden haben die "Selbstverteidigung" zur Wachschutzfirma umfunktioniert.

Ustimenko, im Internet als "Bandera-Jude" beschimpft, ist jetzt Antikorruptionsaktivist. Zurzeit schlägt er sich mit einem Ex-Staatsanwalt herum, dessen Familie ein Vier-Sterne-Hotel auf den Sandstrand am Meer gebaut hat, keine 50 Meter von der Wasserlinie. Der Staatsanwalt wurde deshalb entlassen, gerade ist seine Verleumdungsklage gegen Ustimenko gescheitert. Aber Dutzende solcher Erholungsimmobilien kriechen widerrechtlich in die Hundert- Meter-Schutzzone am Meeresufer. "Die Steilküste ist lehmig", erklärt Jeremiza, "und die Gefahr groß, dass die Gebäude zusammen mit ihr ins Meer rutschen." Seit den 1960er Jahren habe niemand mehr Geld in die Befestigung der Küste gesteckt.

Wenn es um Korruption in Odessa geht, erzählen Ustimenko und Jeremiza die gleichen Geschichten. Von Strandprojekten, die als Bootsstation genehmigt und als Delfinarium gebaut wurden. Oder von Haushaltsmitteln für die Renovierung historischer Baudenkmäler, die nur in Immobilien gesteckt werden, welche Beamten, Parlamentariern oder ihren Spezis gehören.

Seit Jahren schreiben die Zeitungen über die kriminellen Kontakte des Bürgermeisters Gennadi Truchanow, seit Monaten läuft ein Korruptionsverfahren gegen ihn, aber auch dieser Gerichtsprozess klemmt. Eine juristische Schwebe, die nach Einschätzung örtlicher Politologen vor allem Präsident Petro Poroschenko nutzt: Er erwartet vom Bürgermeister tatkräftige Hilfe bei den Präsidentschaftswahlen Ende März.

Ustimenko sagt, Jeremiza sei einer von vielleicht fünf ehrlichen Abgeordneten im Stadtrat. Der wurde im Oktober 2016 in seinem Auto vor einer roten Ampel von Unbekannten mit Pfefferspray und Fußtritten angegriffen - ein Einschüchterungsversuch, sagt er. Von den Tätern fehlt jede Spur. "Der Grund war wohl meine Tätigkeit als Abgeordneter, die den städtischen Behörden kaum gefallen hat."

Und gerade hat die Polizei die beiden Personenschützer abgezogen, die Ustimenko bewachten, nachdem ihn im vergangenen Juni zwei Totschläger mit angespitzten Schraubenziehern attackiert hatten. Die Täter wurden inzwischen gefasst, aber ihre Hintermänner bleiben ebenfalls im Dunkeln. "Wir leben wie US-Gewerkschafter Anfang des 20. Jahrhunderts", sagt ein Mitstreiter Ustimenkos, der Seemann Igor Kalmykow. "Ein Menschenleben zählt nichts." Kalmykow und seine Freunde versuchen, Witali so wenig wie möglich alleinzulassen.

Jerimiza aber steht in seiner neuen Schreinerei, die er in den Wirtschaftsgebäuden der ehemaligen Synagoge an der Welika Arnautska eingerichtet hat, mit sechs Mitarbeitern und Sägebänken aus Österreich. Fünf Holzspielplätze nach Berliner Vorbild haben sie schon aufgebaut. Jeremiza erzählt, inzwischen gebe es 40 Aufträge für weitere Kinderspielplätze, von Kommunalfirmen, Wohnungsgenossenschaften, aber auch anderen Abgeordneten. In Odessa verfüge jeder Stadtparlamentarier über einen Sozialetat von umgerechnet 49.000 Euro. Und er schlage den Kollegen vor, seine deutschen Kinderspielplätze zu kaufen.

Bei postsowjetischen Politikern gelten gut sichtbare soziale Investitionen, ob Parkbänke oder reparierte Krankenhausdächer, als die besten Argumente für die Wiederwahl. Ein schöner neuer Holzspielplatz ist kaum zu toppen. Sicher, er sei selbst der Lobbyist seiner Geschäftsidee, gesteht Jeremiza. Aber er zahle keinem Kollegen Schmiergeld für einen überteuerten Auftrag. "Inklusive Montage kosten meine Holzgeräte nicht mehr als chinesische Plastikspielplätze." Er lächelt wieder. "Ich bin ehrlich und fühle mich wohl dabei." Auch Odessa macht kleine Schritte in Richtung Europa, zumindest in Richtung Berlin-Wilmersdorf.


Kommentar

Freigeist14

23.02.2019

Dieser Beitrag erwähnt nicht, dass die Mehrheit der Bewohner Odessas den Putsch in Kiew nicht unterstützten. Und diese Menschen sind waren nicht "Pro-Russisch " wie immer und immer wieder in westlichen Medien behauptet. So ist es unredlich, bei den 48 Opfern des Rechten Sektors im Gewerkschaftshaus und den 10 in den Tod gesprungenen Flüchtenden von >Anhängern Russlands< zu schreiben .Den Menschen war durchaus bewusst, dass das Assoziierungsabkommen die traditionellen Verbindungen nach Russland kappen sollte und die Bindung an den Westen aus dem Land vor allem einen Absatzmarkt machen sollte. Deshalb wollte der gewählte Präsident Janukowitsch den Vertrag nicht unterschreiben. Die Folgen kann heute jeder sehen. Auf die "Antwort "Russlands auf den "prowestlichen Aufstand ", die Krim zu annektieren, braucht man nicht mehr eingehen . Der Westen hat eben seine eigene Version .


Quelle: FP vom 22.02.2019


© infos-sachsen / letzte Änderung: - 19.02.2023 - 15:32